das Leben in Ostarium

Rasend vor Wut hastete Alia durch die Gänge der großen Universität. Sie war so zornig, dass sie nicht einmal richtig merkte, wohin sie ihre Schritte lenkte. Sie wusste nur, dass sie in Bewegung bleiben musste, sonst wäre sie sicherlich vor Zorn und Hass geplatzt.
Sie musste sich abreagieren, aber sie wusste nicht, wie. Das Gehen half auf jeden Fall. Sie erreichte den großen Park, und die Abendluft kühlte ihre brennenden Wangen.
Der Park war weitläufig angelegt, mit vielen lauschigen Plätzen, wohin sich im Sommer die Studenten zurückzogen um zu lernen oder zu schäkern. So weit im Norden war das Klima sehr mild, fast schon tropisch. Man bemerkte die Jahreszeiten kaum, hauptsächlich daran, welche Orchideen gerade blühten.
Immer noch lief Alia ziellos durch die Gegend, bis sie bemerkte, dass sie vor der Indigo-Orchideenlaube angekommen war, wo sie so viele Stunden mit Otario verbracht hatte. Da bemerkte sie, dass ihr Tränen die Wangen hinunter liefen.
Sie hatte sich selbst für so stark gehalten, so unverletzbar und mächtig. Sie hatte das harte Studium der Kampfmagie durchlaufen, und das alles an der Akademie von Ostarium, wo die Magie genauso unberechenbar war wie überall in Whenua. Sie hatte Verbrennungen erlitten, Verätzungen, hatte das Kontinuum herausgefordert und war selbst im Angesicht
magischer Eruptionen standhaft geblieben. Sie war den Intrigen ihrer Kolleginnen ausgesetzt gewesen und hatte sogar Spott ertragen müssen, weil sie keinen reichen Gönner hatte, der sie nach der neuesten und teuersten Mode ausstattete.
Mit achtzehn Jahren war sie hierher gekommen, jung und unerfahren, in der Hoffnung, eine Ausbildung zu erhalten. Arm, wie sie war, hätte sie nirgendwo eine Universität bezahlen können, doch in Whenua, so hieß es, empfing man jeden magisch Begabten mit offenen Armen. Und tatsächlich hatte man sie aufgenommen und war für das Notwendigste aufgekommen, damit sie lernen konnte.
Und sie hatte gelernt, viele harte Lektionen, über die Magie und über die Menschen. Sie hatte gedacht, dass sie nun, zehn Jahre später, mit allen Wassern gewaschen wäre, dass sie sich eine Existenz aufgebaut hätte und eine Zukunft.
Welche Närrin war sie nur gewesen!

Otario war ihre größte Kraftquelle gewesen. Sie hatte ihn kennen gelernt, als sie an sich selbst zweifelte, die Akademie verlassen wollte und keine Zukunft für sich sah. Damals, vor fünf Jahren, hatte er zu ihr gehalten und ihr den Rücken gestärkt. Er war für sie da gewesen, hatte ihren Gedanken gelauscht und von seinen eigenen erzählt. Jedes mal, wenn sie dabei war, den Mut zu verlieren, war er an ihrer Seite und baute sie wieder auf, und seine Liebe ließ sie all die Selbstzweifel vergessen.
Seine Familie waren Bürgerliche – Handwerker, die lange gespart hatten, um ihrem einzigen Sohn die Ausbildung als Architekt an der Universität zu ermöglichen. Ungefähr ein Jahr, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, nahm er Alia mit nach Hause, um sie seiner Mutter und seinem Vater vorzustellen. Die beiden waren reizende Leute, die Alia sofort ins Herz schlossen, und sie von da an als ihre zukünftige Schwiegertochter betrachteten.
Und tatsächlich hatte Alia geglaubt, dass sie das auch werden würde. Otario und sie waren fünf Jahre lang zueinander gestanden, und hatten auch schwierige Zeiten durchlebt. Als Otarios Vater vor drei Jahren gestorben war, da begleitete Alia ihren Liebsten durch die schwere Zeit der Trauer, und auch als er beschuldigt wurde, eine Arbeit abgeschrieben zu haben, stand sie ihm zur Seite, bis der Vorwurf entkräftet worden war. Voller Wehmut dachte sie daran, wie die Nesselsucht in der Stadt gewütet hatte und sie sterbenskrank im Bett gelegen war. Keine Sekunde war Otario von ihrer Seite gewichen, bis der völlig überarbeitete Medicus gekommen war, um ihr heilende Medizin zu geben. Sogar das Honorar des Heilers hatte Otario damals bezahlt, weil sie selbst fast kein Geld besaß.
All diese Erinnerungen rasten nacheinander durch Alias Kopf, während sie in der Indigo-Laube Platz nahm. Ein leichter Nachmittagsregen hatte eingesetzt, der ihre Kleidung durchweichte und sich mit den Tränen auf ihren Wangen mischte. Sie riss eines der großen Blätter von der wuchernden Orchidee und versuchte, sich damit die Nase zu putzen.
Der Regen schwemmte die Verzweiflung und die Trauer weg und sie spürte, wie der Hass zurückkam. Hass nicht nur auf Otario, der sie so schäbig betrogen hatte, sondern auch auf das kleine Flittchen, das sich ihm an den Hals geworfen hatte. Voller Bitterkeit starrte sie auf das eingebrannte Zeichen der Lex Arcana, das auf ihrem rechten Handrücken prangte. Sie war Intermittor, ein Kampfmagier, das hatte er immer gewusst! Sie hatte ihre Prüfungen bestanden und musste nun ihre Feldpraxis absolvieren – zwei Jahre als magischer Begleiter des Heeres, ständig im Einsatz und nur selten auf Urlaub daheim. Sie hatten Pläne gehabt, für die Zeit danach. Der Platz in der Stadtwache war ihr bereits sicher; sie wäre in Ostarium geblieben und hätte eine Familie gründen können.
Aber noch war nicht einmal die Hälfte ihrer Feldpraxis verstrichen, und schon hatte er sie betrogen. Er hatte schon vor einem Jahr seine Abschlussexamen bestanden, und war bereits dabei, sich einen Namen als Architekt zu machen. Sie hatte sich so sehr gefreut, als er ihr geschrieben hatte, dass sein neuer Stil, der den klassischen Imperialismus mit den whenuischen Reliquienfunden verband, großen Anklang fand, und dass er bereits einige adelige Auftraggeber hatte. Bei einem ihrer wenigen Besuche hatte er ihr versichert, dass er bereits auf ein eigenes Haus spare, in dem sie beide wohnen würden, wenn ihre Feldpraxis erst vorbei wäre!
Sie fragte sich, ob Otario vorgehabt hatte, ihr von Seleva zu erzählen oder nicht. Hatte er vor, sie wegen dieser jungen Patrizierin zu verlassen, oder war das Mädchen nur ein Abenteuer, mit dem er sich die Zeit vertrieb?
Und Seleva selbst… Alia kannte sie. Sie war eine junge Schülerin der Magierakademie, deren Eltern lange Zeit im Ausland gelebt hatten. Erst als der ältere Bruder ihres Vaters kinderlos gestorben war, war ihre Familie nach Whenua zurückgekehrt, um das Erbe und den Titel der Familie zu beanspruchen.
Seleva selbst war eine talentierte Magiern, aber sie war faul und hatte den Kopf in den Wolken. Ihre Familie musste irgendwo in der hintersten Provinz gelebt haben, bevor sie zurück nach Ostarium kamen, und das merkte man dem Mädchen oft genug an, egal wie sehr sie sich bemühte, es zu vertuschen. Insgeheim fragte Alia sich, was Otario überhaupt an ihr fand. Ging es ihm nur darum, dass ein junges Mädchen ihn anhimmelte, da er nun ein erfolgreicher Architekt war? Oder hoffte er auf ihren Titel?
Während sie so dasaß und ihre Gedanken nicht ordnen konnte, fuhr sie sich durchs nasse Haar und spürte angewidert, wie die Tropfen über ihren Nacken unter die Tunika flossen. Sie war müde und hungrig, hatte seit Tagen wenig gegessen und viel gearbeitet. Noch vor achtundvierzig Stunden war sie in Melvis auf einer Weide gestanden, und zwischen Schlamm und Kuhfladen hatte sie sich gemeinsam mit drei Dekurien der Armee von Melvis eine erbitterte Schlacht gegen vier Dämonen geliefert. Die Biester waren kaum zu verwunden gewesen und gegen Alias Spezialität, den Feuerball, völlig immun. Sie hatte Eisbolzen beschwören müssen, um sie gegen die Dämonen zu schleudern und ohne die Hilfe des Wächters der Zeit, der sich ihnen angeschlossen hatte, wären sie vermutlich besiegt worden. Es war auch der Charon gewesen, der sie nach dieser Schlacht und trotz aller Verwundungen weiter getrieben hatte, bis sie den Weltenriss gefunden hatten, durch den die Dämonen nach Whenua gekommen waren. Und dort, nach einem Tag Gewaltmarsch, waren sie noch auf zwei weitere Monster derselben Sorte getroffen, und hatten gegen sie gekämpft, während der Charon den Riss verschloss.
Sie waren mehr tot als lebendig zur Kaserne zurückgekommen, und ihren Urlaub hatte sie sich redlich verdient. Sie war erschöpft bis an die Knochen und hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als Otario wieder zu sehen, ihn zu umarmen und sich von ihm festhalten zu lassen.
Aber soweit war es gar nicht gekommen, denn anstatt bei ihm zu Hause sah sie Otario bereits in der Universität, wo sie sich nur hatte umziehen und frisch machen wollen. Sie sah ihn völlig ungeniert in der Eingangshalle stehen, wo die großen Treppen zur mundanen Universität und zur magischen Akademie zusammentrafen. Er hatte Seleva im Arm, die wie immer tadellos und durchaus offenherzig gekleidet war, und während Alia mit wachsendem Entsetzen zuschaute, flüsterte er ihr lächelnd etwas ins Ohr und küsste sie dann.
Das war der Moment gewesen, in dem Alia sich umgedreht hatte, um davon zu laufen – egal wohin, nur fort. Und nun saß sie hier, nass bis auf die Haut, und konnte es noch immer nicht fassen.
Sie war enttäuscht von Otario, und auch sehr wütend auf ihn. Die Erkenntnis, dass ihre Liebe zerstört war, schmerzte fast genauso sehr wie das Höllenfeuer, mit dem die Dämonen sie attackiert hatten.
Aber gleichzeitig war ihr Hass auf Seleva noch viel größer. Sie kannte die junge Studentin aus dem Tutorium, und sie wusste, dass auch Seleva sie kannte. Und dass sie gewusst hatte, dass sie und Otario ein Paar waren.
Eines der ersten Dinge, die man an der Akademie lernte war, dass die älteren Semester den jüngeren immer überlegen waren. Das lag in der Natur der Dinge. Als junger Student reizte man die Älteren nicht, im Gegenteil: man bemühte sich, ihnen zu Diensten zu sein um vielleicht einen Tutor oder Mentor zu bekommen, der einem durch die erste, schwere Zeit half. Aber niemals war man so dumm, sich mit einem der Älteren anzulegen. Schon gar nicht mit einem Intermittor.
Alia wusste, dass Seleva noch nicht in die Lex Arcana aufgenommen worden war. Nur mittellose Schüler nahm man gleich zu Beginn des Studiums auf, um sich zu vergewissern, dass man ihre Ausbildung nicht unnötig finanzierte. Patrizierkinder wie Seleva, deren Eltern das Studium selbst bezahlten, konnten bis zum Schluss wählen, ob sie der Lex Arcana beitreten wollten oder nicht.
Dennoch mussten sie sich für eine Studienrichtung entscheiden, und Alia wusste, dass Seleva nicht die Kampfmagie gewählt hatte. Sie war auch ziemlich sicher kein Medium oder Gedankenleser, denn diese Studenten waren sehr eigen; zurückgezogen und ziemlich eindeutig erkennbar. Das bedeutete, dass Seleva höchstwahrscheinlich Erkenntnismagie studierte, um später ein Interspektor zu werden, falls sie der Lex Arcana beitrat.
Alia lächelte grimmig, als sie daran dachte. Sie würde Seleva eine Lektion erteilen, die diese kleine Landpomeranze nicht so schnell vergessen würde.
Als Alia am nächsten Morgen zurück zur Kaserne ging, musste sie feststellen, dass weder die Wut noch die Enttäuschung weniger geworden waren. Immerhin dachte sie mit einer gewissen Befriedigung an Selevas Studierzimmer, das die Wucht des großen Feuerballes nicht allzu gut überstanden hatte. Zu gern hätte sie Selevas Gesicht gesehen, wenn diese den Raum betrat und nur noch verkohlte Überreste ihres Mobiliars, ihrer Bücher und ihrer Aufzeichnungen vorfand. Und sie würde wissen, wer ihr das angetan hatte, weil Alia zu ihr gegangen war, noch bevor sie den Feuerball im Studierzimmer losgelassen hatte, um ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie sich die falsche Frau zum Feind gemacht hatte. Die junge Studentin war so überrumpelt gewesen, dass sie gar nicht zur Antwort kam, bevor Alia bereits davon stürmte.
Doch wenn Seleva glaubte, damit bereits davongekommen zu sein, irrte sie gewaltig. In der kurzen Zeit ihrer Feldpraxis hatte Alia bereits einige Schlachten geschlagen und war mit vielen Soldaten in guter Kameradschaft verblieben. Und unter den Soldaten in Whenua gab es sehr viele Rwang. Malani zum Beispiel, der sie in der letzten Schlacht das Leben gerettet hatte, hatte schon öfter von ihrer Großmutter erzählt, die noch eine echte Schamanin war, obwohl sie nicht mehr im Wald lebte, sondern in Ostarium ihre Dienste als Wahrsagerin anbot.
Noch in derselben Nacht hatte Alia Malani aus der Stammkneipe ihrer Dekurie herausgezerrt, und ihr erzählt, was ihr widerfahren war. Die anfängliche Verärgerung der jungen Soldatin wich schon bald einer mitempfundenen Wut, und sie brachte Alia sogleich zu ihrer alten Großmutter, die am Stadtrand in einem ärmlichen Holzhaus lebte.
Alia schenkte dieser Frau ihre gesamten Ersparnisse; alles was sie sich aus dem Feldpraxissold der letzten Monde aufgehoben hatte, obwohl die Alte ihr versicherte, dass sie Malanis Freundin auch ohne Lohn geholfen hätte. Doch Alia bestand darauf, dass die Schamanin das Geld annahm.
Und darum lächelte sie an diesem darauf folgenden Morgen, obwohl es ein trauriges Lächeln war, das ihr Herz nicht erreichte. Sie empfand Genugtuung bei dem Gedanken daran, dass Seleva das Haar ausfallen würde, dass sie Pickel bekommen würde und ihr die Zähne im Mund verfaulen sollten. Sie zweifelte nicht daran, dass es so geschehen würde; sie kannte die Macht der Schamanen.
Sie wusste, dass sie in Wahrheit auch an Otario hätte Rache nehmen sollen. Stattdessen hatte sie ihn gemieden; kein Wort mit ihm gesprochen. Sie wusste nicht, ob Seleva nach ihrer gestrigen Begegnung direkt zu ihm gelaufen war, aber da sie selbst die Nacht nicht in der Studentenunterkunft auf der Akademie verbracht hatte, wusste sie auch nicht, ob Otario versucht hatte, sie zu erreichen. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Sie konnte nicht einfach aufhören, ihn zu lieben, und darum konnte sie ihn auch nicht verletzen oder ihn verfluchen lassen. Aber das Elend, das in ihr herrschte, war seine Schuld, und das konnte sie ihm nicht verzeihen.
Sie erreichte die Kaserne kurz nach Sonnenaufgang. Die Wache warf einen Blick auf ihren Passierschein und ließ sie dann durch das Tor. Ohne zu zögern wandte sie sich zum Büro des Lex Arcana Vorstandes und wartete dort geduldig, bis der Meister sie zu sich rufen ließ.
Dann unterzeichnete sie den Vertrag für den Frontdienst. Der Vorstand war zwar verwundert, weil er wusste, dass sie große Anstrengungen unternommen hatte, um später dem Stadtdienst zugeteilt zu werden. Aber er stellte keine Fragen und respektierte ihre Entscheidung.
Indem sie sich zum Frontdienst verpflichtete, endete ihre Feldpraxis. Drei Tage lang verkroch sie sich in der Kaserne, ehe man sie einer neuen Centurie zuteilte und zum Einsatz nach Redis schickte. Sie wusste nicht, was auf sie zukam – Räuber, Dämonen oder andere Kreaturen, die ihren Weg durch eins der Portale gefunden hatten. Es war ihr völlig gleich.
Sie verließen Ostarium am Vormittag, hundert Soldaten, dreißig Mann im Tross und zwei Magier der Lex Arcana. Sie ritten in einer losen Formation, die Soldaten lachten und scherzten, denn sie waren ausgeruht und frisch bezahlt worden. Alia ritt unter ihnen und fühlte sich wie ein Wassertropfen, der von einem reißenden Fluss fort gespült wurde. Der Gedanke an ihre Rache befriedigte sie zwar, aber er konnte ihr gebrochenes Herz nicht heilen. Also richtete sie ihre Augen nach vorn und blickte nicht zurück.

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