das Leben in Gradum

Als Meliana erwachte, schmerzte ihr Hals und ihr Mund war trocken. Die Augenlider waren ihr schwer, und darum ließ sie die Augen geschlossen, während ihre Sinne träge wieder an die Oberfläche tauchten und die Dunkelheit aus ihren Gedanken vertrieben. Sie fühlte Kälte auf der Haut, doch sie fror nicht. Träge wurde ihr bewusst, dass sie auf etwas Weichem lag, das nach frischer Luft und Lavendel roch. Noch während sie vor ihrem inneren Auge die violetten Stauden im Kräutergarten sah, kam ihr der Gedanke an Bettwäsche. Sie hängten stets frischen Lavendel in die Kästen mit den Laken und den Bezügen, gegen die Motten.
Sie versuchte, genug Kraft zu sammeln, um sich aufzurichten, da bemerkte sie plötzlich, dass sie gar nicht alleine war.
Stimmen erklangen,gedämpft und ungenau, doch je länger sie ihnen lauschte, umso klarer wurde das Gespräch. Meliana erschrak, als sie erkannte, dass zwei Männer im Raum waren – zwei Männer, deren Stimmen sie kannte.
Sie waren in ein Streitgespräch vertieft.
„Und was, dachtest du, ist mit ihrer Familie, ihren Eltern? Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, in welche Schwierigkeiten du uns alle bringen willst?“
Ja, Meliana kannte diese Stimme. Aber niemals so aufgebracht wie jetzt. Für gewöhnlich war es eine ruhige, freundliche Stimme, die Anweisungen gab, aber niemals Befehle. Eine Stimme, die selbst einen Tadel ohne Vorwurf hervorbrachte. Die andere Stimme, die nun antwortete, kannte sie ebenfalls, doch erst seit Kurzem. Der Gast ihres Dienstherrn befand sich erst seit zwei Wochen auf dem Gut, und in dieser Zeit hatte sie ihn kaum gesehen. Wenn sie ihren Dienst beendete und nach Hause ging, stand er meistens erst auf. Die anderen Dienstmädchen hatten viel über ihn getuschelt, besonders weil so deutlich war, dass Muel’sa ihn erwählt hatte. Man hatte ihn als zurückhaltende Person kennen gelernt, doch nun schien er ebenfalls erregt und verärgert zu sein. Seine Stimme war ein heiseres Zischen, als er seine Antwort hervorbrachte:
„Verschone mich mit solchem gutmenschlichen Gefasel, Lucius! Gib ihren Eltern ein Goldstück oder erlass ihnen die Steuern, was schert es mich!“
Erschrocken erkannte Meliana, dass dieses Gespräch sich scheinbar um sie selbst drehte. Noch konnte sie sich keinen Reim darauf machen, aber eine innere Stimme riet ihr, sich noch nicht bemerkbar zu machen. Sie öffnete die Augen ein wenig, sah jedoch nicht viel, weil der Raum nur von zwei Kerzen schummrig erleuchtet wurde. Die beiden Männer erschienen wie Schemen am Fuß des Bettes, als ihr Herr seinen Gast anfuhr:
„Gib Acht, was du sagst, Mark, denn das hier ist mein Haus, und dieses Mädchen arbeitet für mich! Verdammt, sie ist ja noch nicht einmal zwanzig Jahre alt! Ich bin für sie verantwortlich, ebenso wie für alle Menschen in diesem ganzen verfluchten Quarter! Und ich werde nicht dulden, dass du oder ein anderer sie behandelt wie Vieh!“
„Wie Vieh?“ ein dumpfes, kehliges Lachen kam aus Marks Kehle. „Und was sollte ich wohl sonst in einem Menschen sehen, wenn nicht Nahrung? Aber du liegst völlig falsch, wenn du glaubst, ich wollte bloß meinen Hunger stillen. Ich will die Kleine für mich selbst!“
Meliana hielt den Atem an, als ihr klar wurde, was der untote Gast ihres Herrn soeben gesagt hatte. Wieder nahm sie undeutliche Bewegungen am Fuß des Bettes war, als ihr Herr sich auf seinen Gast zu bewegte und dadurch so weit ins Licht trat, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Was sie darin erkannte, war blinde Wut.
„Was für ein Sakrileg! Sie ist keine Gläubige! Du kannst doch den Segen Muel’sas nicht einfach weiter tragen, wie es dir passt! Das wird Muel’sa niemals dulden!“
Mit einer fließenden, schemenhaften Bewegung kam Marks Gesicht zum Vorschein, als er die Herausforderung annahm und selbst einen Schritt auf Lucius zu machte. In seiner Stimme lagen Hass und Bitterkeit, und seine Fingernägel gruben Furchen in den Bettpfosten. „Was weißt du schon von Sakrileg oder Muel’sas Wille! Ich spüre Ihn in mir, jede Nacht, wenn ich hungrig aufwache und im Umkreis eines Kilometers jedes sterbliche Herz schlagen höre! Ich sehe Seinen Willen, jedes mal, wenn ich auf meine sabbernden Geschwister blicke, die Er zu hirnlosen Zombies gemacht hat! Erzähl du mir nicht, was Muel’sa duldet oder nicht! Ich weiß besser als jeder andere, dass für Ihn Gnade und Fluch ein und dasselbe bedeuten!“
Starr lag Meliana auf den Kissen und wagte kaum, zu atmen. Der Vampir Mark flößte ihr mehr Angst ein, als sie ertragen konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war, wusste nicht, was den Streit zwischen den beiden Männern verursacht hatte. Nur eines war ihr klar, nämlich, dass jeder Mann vor diesem Geschöpf geflohen wäre, das seine lodernden Augen auf Lucius Domenicus richtete, doch der Protector von Melvis wich keinen Millimeter vor dem Untoten zurück. Es war kaum ein Jahr her, seit er sein Erbe in diesem Quarter angetreten hatte, und viele Menschen begegneten ihm mit Misstrauen, weil er offen zu seinem Glauben an Muel’sa stand. Es war seiner Diplomatie zu verdanken, dass die untoten Gefolgsleute des Gottes nun an Whenuas Seite gegen den Feind aus Choros kämpften, und diese Allianz hatte ebenso viele Gegner wie Befürworter. Meliana selbst war jedem Untoten bisher so gut wie möglich aus dem Weg gegangen, und auch Mark Dunkelbruch hatte sie kaum angesehen. Wie und warum, bei Schicksal, Zeit und Tod, hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt?
So leise und eindringlich war die Stimme des Protectors, dass Meliana kaum verstand, was er zu dem Vampir sagte.
„Ich warne dich, Mark, schmähe den Namen Muel’sas in meiner Gegenwart nie wieder und wage es nicht, Ihn in Frage zu stellen! Wir beide wissen, dass deine Familie in ihrem Glauben fehlgeleitet war, und es ist Seiner Gnade zu verdanken, dass du zu einem wahren Geschöpf Seines Lebens wurdest. Und Sein Wort ist, dass nur der Gläubige Sein Leben empfangen wird!“
„Ja natürlich“, entgegnete Mark spöttisch, „ich kann den Pal’Rasza geradezu hören, wie er aus deinem Mund spricht. Das hat man dir und den anderen schön eingetrichtert, jahrzehntelang, und ihr plappert es nach wie die aufgezogenen Äffchen. Nur schade, dass es solche wie mich gibt, die aus dieser praktischen Ordnung heraus fallen! Oder wie Cann Kodosmar! Oder wie…“
Forsch schnitt Lucius Mark erneut das Wort ab.
„Keinen Ton mehr, Mark! Der Schlächter wird den Weg Muel’sas verstehen lernen, oder er wird untergehen! Und damit kein Wort mehr davon! Versuch nicht, von deinem eigenen Fehler abzulenken!“
„Fehler? Ich weiß ganz genau, was ich tue, Lucius, und ich mache keine Fehler!“
Mit ausgestreckter Hand wies Lucius zu Meliana, die sich bemühte, schlafend zu wirken, falls der Vampir zu ihr schauen sollte. Doch Mark starrte weiter den Protector an, als dieser fortfuhr: „DAS ist ein Fehler, Mark! Was glaubst du, geschieht, wenn du einfach so eines meiner Dienstmädchen verwandelst? Willst du einen Bauernaufstand vor deiner Mühle haben? Der Friede zwischen dem Lordprotector und Deinesgleichen steht ohnehin schon auf wackeligen Beinen!“
Ein bitteres Lachen entkam dem Untoten. „Illusion, Lucius, das ist dieser Friede. Die Menschen werden uns in den Rücken fallen, sobald sie uns nicht mehr brauchen, und das weißt du ebenso gut wie ich.“
„Wenn du das wirklich glaubst, hast du umso weniger Grund, sie unnötig zu provozieren“, schoss Lucius zurück. In diesem Moment geschah eine Veränderung, die den Protector sogar noch gefährlicher erscheinen ließ als den Vampir. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern, und eine enorme Hitzewelle ging von ihm aus, als stünde er in unsichtbaren Flammen. Meliana glaubte, dass jedes ihrer Haare sich kräuseln müsste, und selbst der untote Mark wich einen ganzen Schritt vor Lucius zurück, der mit seiner Antwort noch lange nicht fertig war. Als er weiter sprach, lag ein tiefer Druck auf seiner Stimme, der Meliana direkt in den Kopf kroch und dort dröhnte wie ein Glockenschlag.
„Und mich solltest du schon gar nicht provozieren, Cousin. Ich werde in meiner Familie keine Ketzerei dulden. Du wirst dich an die Regeln halten, oder ich liefere dich persönlich dem Pal’Rasza aus.“ In diesem Moment sah Meliana den Hass, der in Marks Augen stand, und sie war sicher, dass die beiden Männer gleich aufeinander losgehen würden.
Doch es kam anders. Mark schloss die Augen und schien einen kurzen, inneren Kampf auszufechten. Als er wieder aufblickte, war die Aggression aus seinem Gesicht verschwunden. Meliana sah wohl, dass seine Hand sich noch immer um den Bettpfosten krampfte und das Holz unter seinem Griff nunmehr zersplittert war. Doch nichts sonst verriet seine Wut. Lässig zog er ein silbernes Etui aus der Tasche und entnahm ihm eine gedrehte Papierrolle, die Rauchkraut enthielt. Eine kleine Flamme erschien in der Hand des Vampirs, als er den Glimmstängel anzündete.
„Du hast Recht, ich bin dein Gast, und ich habe dir Ungelegenheiten bereitet. Nimm meine Entschuldigung dafür.“ Nachdenklich blies er einen Rauchkringel in die Luft. Der Protector entspannte sich deutlich, und gleichzeitig verschwand die unnatürliche Hitze.  Lucius nahm die Entschuldigung mit einem Nicken an. Die beiden Männer entfernten sich von dem Bett und Meliana spürte, dass die Gefahr vorbei war. Ihr wurde wieder bewusst, wie schwach und schwindelig sie sich fühlte, obwohl sie bereits im Bett lag. Bleierne Müdigkeit senkte sich auf sie herab, und sie schlief wieder ein.
Am nächsten Tag erwachte Meliana mit grässlichen Kopfschmerzen in ihrem eigenen Bett im Haus ihrer Eltern. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, und der Traum von letzter Nacht kam ihr unwirklich und verwaschen vor. Ihre Mutter saß an ihrem Bett und fütterte sie mit Suppe, und da wurde Meliana klar, dass sie krank war. Sie aß nur wenig und schlief bald wieder ein.
Der Protector schickte seinen eigenen Leibarzt zu Meliana, was bei ihren Eltern für großes Aufsehen sorgte. Der betagte Medicus untersuchte sie sehr genau, sprach jedoch nur wenig und verordnete keinerlei Medizin. Trotzdem wurde Meliana wieder gesund und konnte schon nach drei Tagen wieder zur Arbeit gehen.
Nur einen Tag später reiste Mark Dunkelbruch ab, und obwohl Meliana einerseits froh war, dass der unheimliche Gast fort war, spürte sie zu ihrer eigenen Überraschung auch einen Anflug von Trauer und Verlust. So gering diese Gefühlsverwirrung auch zu sein schein, so verdarb sie ihr doch gründlich den Magen.
Der Sommer tauchte das Land in grelles Sonnenlicht, und Meliana litt unter der Hitze wie nie zuvor. Tagsüber quälten sie lähmende Kopfschmerzen, sodass sie öfter als einmal unkonzentriert war und Gegenstände fallen ließ. Das Schlimmste daran war, dass der Protector ständig dort auftauchte, wo sie ihre Arbeit zu verrichten hatte, und jedes ihrer Missgeschicke mit Argusaugen beobachtete. Auf diese Weise wurden ihr die Tage zur Qual. Erst mit der Kühle des Abends erfuhr sie Linderung und bekam ein wenig Appetit. Nachts konnte sie kaum schlafen und warf sich unruhig im Bett hin und her. Wenn sie schlief, träumte sie oft von dem Vampir Mark, und in ihrer Erinnerung kam er ihr deutlich weniger düster und gefährlich vor. Morgens mühte sie sich aus dem Bett, und sobald die Morgensonne ihr in die Augen stach, kamen die nagenden Kopfschmerzen zurück. Ihrer Mutter zuliebe versuchte sie, zu essen, doch sie brachte kaum einen Bissen hinunter. Stattdessen trank sie viel Wasser, denn sie litt ständigen Durst.
Schließlich begann sie, im Schlaf zu wandeln. Zunächst tappte sie lediglich im Haus herum, doch nachdem ihre Eltern sie zweimal im Nachtgewand auf offener Straße gefunden hatten, verriegelten sie die Haustür und nahmen den Schlüssel mit ins Bett. Von da an wurden sie geweckt, weil Meliana mitten in der Nacht an der Haustür rüttelte.
Nicht ganz ein Monat war seit dem Besuch des Vampirs vergangen, als der volle Mond hell durch das Fenster im Melianas Zimmer schien. Sie erwachte und spürte, dass sie bei vollem Bewusstsein war. Anders als sonst, wenn sie besinnungslos im Schlaf wandelte, wusste sie genau, was sie tat, als sie zum Fenster ging und es weit öffnete. Ihr Zimmer lag im Dachgeschoß des Hauses, und die Straße davor war in silbernes Licht getaucht. Leise trat Meliana an ihren Kasten heran und holte ihren Umhang heraus, der aus dunkler Wolle war und ihr weißes Nachtgewand bedeckte. Dann schwang sie sich auf den Fenstersims und sprang ohne Angst auf die Straße hinab. Als sie federnd auf dem harten Boden aufkam, blickte sie kurz die zwei Stockwerke hinauf und schauderte leicht. Doch der Moment währte nur kurz, dann wurde das Verlangen in ihrem Inneren wieder stärker und trieb sie auf leisen Sohlen durch die Stadt. Ein unbestimmtes Gefühl der Eile hatte sie erfasst, und sie warf oft einen Blick über die Schulter zurück. Fast erwartete sie, dass der Protector selbst aus den Schatten treten würde, um sie aufzuhalten. Sie mied die inneren Bezirke, in denen selbst zu nachtschlafender Zeit Tavernen und Spelunken offen hatten und Straßenverkäufer die ganze Nacht hindurch ihre Stände offen hielten. Stattdessen lief sie durch die Wohnviertel der Arbeiter, wo sich meistens drei oder vier Familien ein Haus teilten, und streifte die nobleren Bezirke, wo die großen Gutshäuser der Patrizier in stillem Schlaf lagen. Den großen Viehmarkt umging sie, denn dort waren viele Tiere nachts in den Mietställen untergebracht, und viele Nachtwächter wurden von den Händlern bezahlt, um auf ihren Besitz aufzupassen. Der Wind trug den Geruch der Pferde, Rinder, Schafe und Schweine zu Meliana herüber, und sie fragte sich, warum ihr das Aroma so anders erschien als früher. Kurz dachte sie daran, dass ihre beiden Brüder als Großhirten auf den grünen Hügeln im Norden von Gradum arbeiteten und gerade jetzt wohl Nachtwache bei hunderten von Kühen hielten. Doch der Gedanke war nur kurz, fremd, als wäre es die Erinnerung einer anderen Person.
Schließlich hatte sie die Stadtmauer erreicht, und ohne lange zu überlegen griff sie in die Risse und Spalten der Ziegel und zog sich daran hinauf. Geschickt wie eine Katze kletterte sie auf die Mauer, gab Acht, keinem Soldaten zu begegnen, und sprang auf der anderen Seite ebenso mühelos hinab wie vor wenigen Minuten von ihrem eigenen Fenster.
Als sie den lehmigen Boden unter ihren bloßen Füßen spürte, fühlte sie sich mit einem Mal so frei wie nie zuvor. Es verlangte sie danach, zu laufen, und sie rannte ohne außer Atem zu kommen so schnell wie der Wind. Ihre Füße trugen sie über die großen Weideflächen vor der Stadt, und ohne sich Gedanken darüber zu machen, sprang sie über die Weidezäune und Gräben hinweg, als wären sie Kreidestriche auf dem Boden. Sie erreichte den Forst, tauchte in die Dunkelheit der Bäume ein und konnte dennoch ihren Weg völlig klar erkennen. Sie war noch nie in einem Wald gewesen, doch sie fürchtete sich nicht. Sie wusste genau, in welche Richtung sie laufen musste, und kaum war eine Stunde vergangen, war sie an ihrem Ziel angekommen. Dort, immer noch im Wald, fand sie Mark, und sie wusste, dass er auf sie gewartet hatte.
Er streckte die Hand nach ihr aus, als er sie zwischen den Bäumen erblickte, und sie flog in seine Arme. Völlig unverständlich war ihr, dass sie sich jemals vor ihm gefürchtet hatte. „Wir müssen uns beeilen“, sagte er. „Noch vor dem Sonnenaufgang müssen wir bei meiner Mühle sein.“ Dieser Satz holte Meliana drastisch auf den Boden der Tatsachen zurück. Vor Sonnenaufgang, denn er konnte das Licht des Tages nicht ertragen. Gedanken rasten durch ihren Kopf, Fragen und Antworten überschlugen sich. „Was wird geschehen, wenn wir dort angekommen sind?“ fragte sie. Ein Lächeln erschien auf Marks Gesicht, und sie sah, dass seine Augen tatsächlich rot waren, so wie in ihrer Erinnerung. „Dann werde ich vollenden, was ich begonnen habe, und damit Lucius beweisen, dass er Unrecht hat.“ Jetzt endlich verschwand der Schleier, der über ihrer Erinnerung an jene Nacht gelegen hatte, und sie entsann sich jedes einzelnen Worts und jeder Bewegung, der sie Zeuge geworden war. Sie begriff, dass der Untote sie geblendet und verzaubert hatte, und löste sich aus seiner Umarmung. „Und was wird dann aus mir? Ein lebender Beweis, ein Haustier?“ Ein Ausdruck ehrlicher Enttäuschung erschien auf Marks Gesicht. „Hast du so wenig begriffen? Ich biete dir Unsterblichkeit an, Mädchen, die Gnade von Muel’sa. Nicht mehr und nicht weniger. Was du daraus machst, bleibt dir alleine überlassen.“ „Und was, wenn ich diese Unsterblichkeit nicht will?“ fragte sie zaghaft. „Das wäre sehr bedauerlich“, gab der Vampir zurück, und da wusste Meliana, dass ihr nur der endgültige Tod zur Wahl stand. Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf, das in scharfem Gegensatz zu dem freundlichen Ton stand, in dem Mark fortfuhr: „Aber warum solltest du mein Geschenk nicht wollen? Gefällt dir nicht, wie schnell du dich bewegen kannst, wie stark du dich fühlst und wie sicher? Sind nicht alle deine Sinne scharf wie nie zuvor und spürst du nicht, wie frei du bist? Weshalb solltest du eine schwache Sterbliche sein wollen, gefangen in einem Leben als Dienerin, bis du alt bist und grau? Hast du nicht jetzt schon erkannt, wie viel besser die Existenz ist, die dir angeboten wird?“
Eine schwache Stimme in Meliana schrie, dass der Vampir log, und sie nur erneut becircte, um seinen Willen zu bekommen. Aber der stärkere Teil von ihr musste ihm Recht geben. Außerdem wollte sie nicht sterben – nicht jetzt, und nicht so. Sollte Mark sie wirklich belogen haben, dann musste sie erst Recht zu Seinesgleichen werden, denn nur dann würde sie ihm den Betrug heimzahlen können. Und falls er die Wahrheit sprach… nun, dann war es vielleicht wirklich ein Geschenk, das sie zu schätzen wissen würde. Mark las den stummen Zuspruch in ihrem Gesicht, nahm sie an der Hand und zog sie in Windeseile weiter, zu seiner Heimat, der Mühle Dunkelbruch. Sie waren vor Sonnenaufgang dort.
Lucius Domenicus stand auf dem nordöstlichen Wachturm der Stadtmauer und beobachtete, wie Meliana über die Weideflächen hinweg auf den Wald zulief. Seine linke Hand spielte mit dem silbernen Knauf seines Gehstocks, und seine Miene drückte deutlich seine Verärgerung aus. Neben ihm stand jemand, dessen Gestalt und Gesicht durch fließende, schwarze Gewänder verhüllt waren. Man hätte unmöglich sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, nicht einmal, als das Geschöpf mit einer tief hallenden Stimme fragte: „Soll ich sie aufhalten, Herr?“ Die Worte hingen in der Luft und schienen aus sich selbst heraus ein Echo zu bilden, sogar noch nachdem der Satz fertig gesprochen war. Der Protector verneinte.
„Ich will wissen, wie weit Mark wirklich geht. Vor allem will ich wissen, ob er dumm genug ist, zu glauben, dass ich nicht sehen konnte, wie sich das Mädchen veränderte, oder ob er dreist genug ist, zu glauben, dass er damit durchkommt.“ „Soll ich einen Umbra zur Mühle schicken, der Bericht erstatten kann?“ erbot sich der düstere Gefährte des Protectors. Dieser schüttelte wiederum den Kopf.
„Nicht nötig“, war seine Antwort. Der Blick des Protectors wurde leer, als wäre er in große Ferne gerichtet, und seine Stimme klang ruhig, beinahe verträumt, als er weitersprach: „Ich sehe alles, was ich sehen muss.“

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