Leben in Venvicium

Cassius ging gemütlich die nächtlichen Straßen von Venvicium entlang, und versuchte, die Aufregung im Zaum zu halten. Er verfügte über eine ausgezeichnete Selbstbeherrschung und hatte so viele gefährliche Situationen gemeistert, dass er nur noch selten mit Angst oder Panik zu kämpfen hatte. Wenn er sich auf eine schwierige Unternehmung oder gar einen Kampf vorbereitete, überkam ihn meistens eine übernatürliche Ruhe und sein Kopf war völlig klar.

Doch nun stand sein Erfolg kurz bevor; das Ziel, auf das er jahrelang hin gearbeitet hatte, war deutlich in Sicht, und er war aufgeregt. Er würde reich sein und dieses kleine Nest verlassen können, das der Protector von Linsar zu seiner Hauptstadt erkoren hatte. Nicht, dass er in diesem Quarter größere Städte zur Auswahl gehabt hätte.

Kurz gab sich Cassius den erfreulichen Aussichten auf eine Zukunft im Norden hin; wo es Winter wie Sommer warm war; wo in den Städten die zivilisierten Menschen nicht mit den halbwilden Rwang zusammen leben mussten, und wo es Häuser gab, die mehr als zwei Stockwerke hatten. Verächtlich blickte er auf die niedrigen Fachwerksbauten, welche die Straße säumten. Wer hierzulande ein Obergeschoß an seinem Haus hatte, galt bereits als reicher Mann. Und selbst in den Vorgärten solcher herrschaftlichen Häuser zogen die Frauen ihre eigenen Kräuter und Gemüse heran; einige hielten sogar im Hinterhof Schafe, Hühner oder Ziegen. Mehr noch, die Damen des Hauses waren sich nicht zu gut, selbst das Unkraut zu zupfen oder die Ställe ihrer Tiere auszumisten; kaum jemand hatte mehr als zwei oder drei Hausdiener angestellt.Natürlich hatte der Menschenschlag, der unter solchen Bedingungen leben wollte, auch seine guten Seiten. Die Menschen in Venvicium – und auch sonst überall in Linsar – waren herzlich und offen, hilfsbereit und achteten einen Menschen nach seinen Taten. Sie konnten anpacken und ihre Probleme selbst lösen. Andererseits konnten sie auch gar nicht anders überleben, in einer so unwirtlichen Gegend wie dieser.Doch ebenso wie er die robuste Art der Leute hier schätzte, so wurde er auch davon abgestoßen. Er hätte sich niemals eines dieser resoluten Mädchen hier zur Frau genommen, das arbeiten konnte wie ein Pferd, aber dafür so stur sein wie ein Esel. Er dachte an die liebreizenden Mädchen im Norden, aus gutem Hause kommend und stets adrett gekleidet. Keins von ihnen hatte jemals ernsthafte Arbeit verrichtet; die meisten konnten bestenfalls sticken und weben. Viele konnten nicht einmal kochen. Doch das mussten sie auch nicht. Jede von ihnen war eine gute Partie und würde nur einen Mann heiraten, der ihr ein Leben in Luxus bieten konnte, in einem großen Haus und mit einer ausreichenden Dienerschaft.Und genau so ein Mann würde er bald sein.
Er hatte drei Jahre gebraucht, um seinen Auftrag zu Ende zu bringen. Ihm war von Beginn an klar gewesen, dass er sein Leben riskierte, aber die Aussicht auf eine reiche Belohnung hatte als Ansporn ausgereicht. In Wahrheit hielt er es sogar für Glück, dass man ihm die Aufgabe angetragen hatte.
Für einen Moment dachte Cassius an das Büro des Tribunmajors, der an seinem schweren, dunklen Schreibtisch gesessen hatte, um sich dann verschwörerisch vorzubeugen und leise zu sagen: „Der Kojote, Cassius. Wir wollen endlich wissen, wer er ist. Dieser Mann ist ein Phantom, und er führt die Diebesgilde effizienter als jeder Boss vor ihm. Seine Spitzel sind überall und sogar in Adelskreisen hat er Kontakte. Er ist gefährlich, und wir brauchen seine Identität.“

Es klang so einfach, und war doch so schwer. Cassius war sich völlig im Klaren darüber, warum die Pugna Umbralis ihn für diese Aufgabe gewählt hatte. In seiner unrühmlichen Kindheit hatte er selbst mehr auf der Straße als zu Hause gelebt; besonders als er noch jung war und seinem Vater nicht die Stirn bieten konnte. Er hatte sich bei den heimatlosen Straßenkindern besser aufgehoben gefühlt als in der ärmlichen Bruchbude, die doch stets nur nach Alkohol und Unrat roch, und die mehr undichte Stellen in Wand und Dach hatte als ein Mehlsieb. Er hatte gestohlen, um sich den Respekt der anderen Jungs zu verdienen, und nicht so sehr, weil er Hunger hatte. Natürlich hatte er sich Ärger eingehandelt, aber nicht mehr, als er verkraften konnte. Und als er älter wurde und die Unternehmungen der Straßenjungs vom harmlosen Apfelklauen zu organisierten Einbrüchen wurden, hatte er sich abgeseilt und war zum Heer gegangen.

Darum war er jetzt hier, denn er wusste, woran man einen Dieb erkennt und wie man mit ihm umgehen musste. Er konnte Kontakte knüpfen, ohne Verdacht zu erregen, und Straftaten begehen, ohne wie ein Anfänger zu wirken. Dennoch war es nicht leicht gewesen, überhaupt erst ein loses Ende zu finden, mit dem er beginnen konnte.

Ironischer Weise waren es die Rwang gewesen, durch die er nach einigen Wochen, die er schon in Venvicium verbracht hatte, Anschluss an die Diebesgilde fand. Hier im Süden gab es viele Rwang, und sie waren ganz anders als die Elendsgestalten, die er aus Redis und Ostarium kannte. Sie waren wild und stolz und lebten tief in den Wäldern. Regelmäßig kamen Gruppen von verschiedenen Stämmen in die Stadt, um Handel mit Kräutern und Fellen zu treiben, die sie streng genommen gewildert hatten. Er begann sich halbherzig für die Geschäfte der Rwang zu interessieren und stellte schon bald fest, dass ihre Käufer die Felle als Schmuggelware erwarben, um sie dann in den Norden zu schleusen. Am meisten verwunderte ihn daran, dass es am helllichten Tag geschah, sozusagen unter den Augen der Stadtwache, die niemals etwas dagegen unternahm.

Die Schmuggler waren sein erster Kontakt zur Diebesgilde und es dauerte nicht lange, bis er ihr Vertrauen erschlichen hatte und sie ihn offiziell in die Gilde aufnahmen. Doch das war nur der Startschuss für den eigentlichen, mühsamen Aufstieg zur Spitze. Er intrigierte, knüpfte Freundschaften, erledigte gefährliche Aufträge und kletterte langsam die Leiter innerhalb der Diebesgilde hinauf. Während er Kopf und Kragen riskierte stellte er mit Entsetzen fest, dass er ein ausgezeichneter Verbrecher war.

Er dachte nie ernsthaft daran, die Seiten zu wechseln. Es war nicht so sehr die Angst vor der Verfolgung durch die Pugna Umbralis, die ihn bestimmt das Leben gekostet hätte, sondern viel mehr der Widerwille, sein restliches Leben im kalten Süden zu verbringen und die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben, sobald er seine Belohnung kassieren würde. Und diese Belohnung hatte er sich redlich verdient. Zu guter Letzt hatte er sogar eine Affäre mit der Witwe eines ehemaligen Gildenbosses anfangen müssen, um endlich Zugang zum Inneren Kreis zu erhalten. Danach hatte er einen Anschlag auf die Diebesgilde geplant, den er selbst vereiteln konnte. Es war ein riskanter Plan gewesen, der für seinen Geschmack zu viele unbekannte Faktoren beinhaltet hatte, aber er war damit durchgekommen.

Und nun war er zum Kojoten bestellt worden. Er wusste inzwischen genug über die Struktur der Diebesgilde, um diese Ehre richtig einschätzen zu können. Seinen Informationen zufolge wussten nur drei Menschen über die Identität des Kojoten Bescheid, und keine dieser Personen hatte er bisher gesehen. Er wusste nicht einmal ihre Namen. Dass der Kojote ihn sehen wollte, konnte nur bedeuten, dass er ihn zu einem seiner engsten Vertrauten machen und ihm eine besondere Aufgabe übergeben wollte.

Er war an seinem Bestimmungsort angelangt, einem unauffälligen Haus, das einen ungepflegten Eindruck machte und überhaupt nicht bewohnt aussah. Konzentriert gab er das vereinbarte Klopfzeichen, und nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür.

Er trat in einen kalten, leeren Raum, der schon lange nicht bewohnt worden war. Ein alter, vergammelter Tisch stand in der Mitte des Raumes, und in einem Sessel, mit Blickrichtung zur Tür, saß jemand. Cassius trat einige Schritte näher, da er in dem trägen Licht der Talgkerzen nicht erkennen konnte, wer ihn dort erwartete.

„Das ist nah genug,“ raunte eine tiefe und gleichzeitig sanfte Stimme, und er hielt sofort inne. Die Gestalt in dem Sessel beugte sich vor und enthüllte das Gesicht einer Frau. Für einen kurzen Moment war er erstaunt, doch er verbarg es gut hinter seinem regungslosen Gesicht.

Ihr Haar war stahlgrau, und ihr Gesicht hart, kalt, und scharfkantig. Ihre eisblauen Augen blickten klar und intelligent, und sofort wurde Cassius bewusst, dass er sie bewunderte. Ganz kurz überlegte er, dass ihre Haare früher rabenschwarz gewesen sein mussten und ihr Gesicht edel und schön, bevor sich die Linien eines harten und gefährlichen Lebens darin eingegraben hatten.

„Ihr seid Cassius,“ stellte sie fest, „und nach allem, was ich höre und sehe, seid Ihr derzeit mein bestes Pferd im Stall.“

Cassius spürte irrationalen Stolz in sich aufsteigen, als er dieses Kompliment hörte. Ihre raue Stimme war anziehend und er begann zu verstehen, wieso diese Frau sich zum Anführer der Diebesgilde aufschwingen konnte.

„Ihr seid sehr freundlich,“ gab er zur Antwort, „aber Ihr seid mir gegenüber eindeutig im Vorteil, denn ich weiß nicht, wer Ihr seid.“

Sie lachte kurz, aber es wirkte ein wenig gekünstelt.

„Wohl gesprochen, Cassius, aber Ihr wisst genau, wer ich bin. Ihr arbeitet für mich, schon seit fast drei Jahren. Und in dieser Zeit habt Ihr Euch gut gemacht.“ Er wollte etwas erwidern, aber sie schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. „Ihr braucht Euch nicht geschmeichelt fühlen, oder falsche Bescheidenheit vorspielen… ich kenne Männer wie Euch und weiß, dass Euch ein starker Ehrgeiz antreibt. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, sehr genau zu beobachten, wer von meinen Mitarbeitern zu etwas taugt, und wer nicht. Wenn ich also sage, dass Ihr Euch gut gemacht habt, dann ist das eine Tatsache, keine Schmeichelei.“

Cassius nahm ihre Rede mit unbewegter Mine hin und versuchte, sie einzuschätzen. Resolute Frauen wie sie waren in Linsar keine Seltenheit. Da sie die Diebesgilde eisern im Griff hatte, war sie bestimmt zäh, hart im Nehmen und gut im Austeilen. Andererseits kannte er viele Menschen wie sie, die hinter einer solch geradlinigen Art ihre Unsicherheit versteckten. Indem sie ihn mit einem verbalen Frontalangriff mundtot machte, vermied sie es, ihren Standpunkt diskutieren zu müssen.

Natürlich hatte er gar nicht vor, ihr zu widersprechen. Stattdessen nickte er, und war bemüht, sich jede Linie ihres Gesichts einzuprägen. Bestimmt würde man einen Gedankenleser einsetzen, um das Bild des Kojoten – nein, der Kojotin! – aus seinem Kopf zu holen.

Die Kojotin musterte ihn mit einem druchdringenden Blick, und sprach weiter. „Cassius, du hast dich als vertrauenswürdig erwiesen, und ebenso als fähig. Ich brauche gute Männer wie dich in meiner Organisation. Wie du weißt, ist Tullius Bravus vor etwa zwei Jahren gestorben… du kennst ja seine Witwe sehr gut.“ Cassius quittierte diesen kleinen Seitenhieb mit einem flinken Lächeln, weil er sich sicher war, dass die Kojotin das von ihm erwartete. Ebenso registrierte er, dass sie ihn plötzlich wie einen Vertrauten ansprach und schloss daraus, dass er irgendeinen Test bestanden hatte, ohne zu wissen, wie. „Tullius war mein wichtigster Mittelsmann in Handelsbelangen. Er organisierte den Transport wertvoller Pelze und Felle nach Norden. Ich möchte, dass du seinen Platz einnimmst. Wenn du Interesse hast, kannst du auch gern seine Witwe heiraten und sein Haus übernehmen, ich bin mir sicher, dass sie dich mit offenen Armen empfangen würde. Du kennst Gracia Virel, mit der du vor wenigen Monaten zusammengearbeitet hast. Sie wird dich in der ersten Zeit unterstützen. Du triffst sie morgen zur neunten Stunde beim Handelskontor. Hast du noch Fragen?“ Sie hob eine Augenbraue, und Cassius fragte: „Welchen Anteil erhalte ich für diese Aufgabe?“ Die Kojotin grinste, und wieder war Cassius sich sicher, einen Test bestanden zu haben. „Zunächst werden wir dich als offiziellen Händler aufbauen, und da Tullius bereits seit zwei Jahren tot ist, wird das nicht einfach werden. Andere haben die Lücke gefüllt, die er hinterlassen hat, und wir werden sie daraus verdrängen müssen. Es wird einfacher sein, falls du dich tatsächlich mit seiner Witwe zusammen tust, aber wenn nicht, ist das auch kein Beinbruch. Wir machen so etwas nicht zum ersten Mal, und du wirst gut daran verdienen. Von diesem Gewinn wirst du 50 Prozent an die Gilde abliefern. Sobald du auf dem Markt etabliert bist, werden wir damit beginnen, die Pelze und Felle, die wir von den Rwang kaufen, an der Steuer vorbei zu schmuggeln. Du spielst dabei nur den Mittelsmann, und genaue Instruktionen erhältst du, wenn es soweit ist. Für jetzt lass dir gesagt sein, dass dein Anteil an diesen Geschäften fünf Prozent vom Gewinn betragen wird.“ Fragend hob Cassius eine Augenbraue, und die Kojotin verstand sofort. „Fünf Prozent mag gering klingen, Cassius, aber du wirst damit zufrieden sein. Bestimmt ist dir aufgefallen, dass Tullius einer der reichsten Männer in Venvicium war, und seine Witwe selbst nach zwei Jahren ohne Einkommen weit davon entfernt ist, Not zu leiden.“ Erneut nickte Cassius und wusste, dass ihr Gespräch schon bald beendet sein würde. Insgeheim hatte er gehofft, dass die Frau ihren richtigen Namen nennen würde, doch es wunderte ihn wenig, dass sie ihn verschwieg. Aber das war nicht schlimm, er kannte ihr Gesicht, und mehr brauchte er nicht. Nur zwei Stunden, nachdem die Kojotin ihn entlassen hatte, verließ Cassius Venvicium. Er hatte diese Flucht lange geplant und alles war bereit gewesen. Jetzt musste er nur noch schnell genug sein und in Ostarium ankommen, bevor die Meuchelmörder ihn fanden. Denn dass die Kojotin ihm ihre Halsabschneider hinterher hetzen würde, stand für ihn außer Frage. Doch er hatte voraus geplant, und konnte jeden halben Tag sein Pferd wechseln. Er würde wenig schlafen und bis zur völligen Erschöpfung reiten, und er würde es schaffen. Schon wenige hundert Meter außerhalb der Stadt spornte er das Pferd zu einem schnellen Galopp an und ließ Venvicium mit einem Gefühl grimmiger Befriedigung hinter sich zurück. Nachdem Cassius das schäbige Haus verlassen hatte, lehnte sich die Frau mit den stahlgrauen Haaren seufzend im Sessel zurück und rieb sich kurz die Schläfen. „Eigentlich schade darum,“ meinte sie, „Er hätte einen hervorragenden Schmuggler abgegeben.“ Aus den Schatten des Raumes löste sich eine dunkel gekleidete Gestalt mit kurzem, schwarzem Haar, die einen langen Ledermantel trug. „So herausragend war er wieder auch nicht, „ meinte die Gestalt mit wohl modulierter Stimme. „Wir haben es ihm sehr leicht gemacht, und ihn durch viele Aufgaben geradezu hindurch getragen.“ Er schnaufte verächtlich. „Als würden wir einem dahergelaufenen Ganoven nach nur drei Jahren Zugang zum Inneren Kreis gewähren!“ Eine dritte Stimme mischte sich ein, als ein weiterer Mann aus den Schatten an einer anderen Wand auftauchte. Er war kleiner als der erste Mann und auch kleiner als die Frau mit den stahlgrauen Haaren. Seine Stimme war hell und von ansteckender Fröhlichkeit. „Hauptsache, die Pugna Umbralis glaubt es, nicht wahr?“ fragte er rhetorisch und wandte sich dann an die Frau. „Du warst ganz hervorragend meine Liebe.“
Sie schnitt eine Grimasse und entgegnete: „Nächstes mal ist aber wieder jemand Anderes dran.“ Sie grinste kurz und meinte dann: „Du könntest dich doch auch mal selbst spielen!“ Der Mann lachte herzlich und seine ansteckende Heiterkeit entlockten auch ihr und dem anderen Mann Gelächter. „Nein,“ meinte er kichernd, „das wäre doch viel zu offensichtlich.“

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